Die entfesselte Digitalisierung

04.06.2020

„Lernen auf Distanz“ ist das neue Lernformat. Die Ausbreitung von COVID-19 hat diesen Begriff als neue Beschulungsform hervorgebracht. Ein genauer Blick auf das, was dies für das Lernen und die Kommunikation in der (Schul-)Welt bedeutet, lohnt.

Die Schulschließungen entpuppten sich ungewollt zum Tempomacher der Digitalisierung im ganzen Land. Schleppte sich die von der Ministerin mit großem Pomp öffentlichkeitswirksam initiierte Digitaloffensive bisher so dahin, war mit dem Tag der Schulschließung plötzlich alles anders. Es war die Stunde der Pragmatiker. Frei nach dem Motto „Was gibt es? Was brauche ich? Das mache ich!" wurde digitales Kommunizieren und Lernen nun wie in einem großen Versuchslabor tausendfach neu erprobt.

Grafik: Mascha Tace/shutterstock.com

Wirtschaft, Fernsehanstalten, Softwarevertreiber stiegen mit ein und stellten Materialien für das „Lernen auf Distanz“ im Netz (meist kostenlos) zur Verfügung. Die Angebote wachsen bis heute täglich aus dem Boden. Dazu kommt dann behördlicherseits die Erinnerung an die „Dienstpflicht“, die dann überwiegend aus dem Homeoffice zu erfolgen hat.
Da stellt sich eine unbequeme Frage: Wie sieht denn ein „Homeoffice“ einer Lehrkraft aus und was versteht man denn darunter? Antwort: Das Homeoffice besteht aus einem privaten digitalen Endgerät, privaten Peripheriegeräten, privaten Mailadressen und privater Software nach Gusto.

In diesem Zusammenhang erfand man dann auch den Begriff „Lernen auf Distanz“. Diese Lernform wird nun gefüllt – jeder wie er kann und mag. Die Bandbreite ist enorm. Hier kommen nun die alten
XP-Rechner genauso zum Einsatz wie High-End-Varianten. So ergibt sich dann auch das Bild des Materials, das an unsere Schülerinnen und Schüler zur Bearbeitung weitergeleitet wird. Von extrem analog (Kopien) bis perfekt digital (per Down- und Upload auf eine Lernplattform).

Der Beitrag des Dienstherrn in Düsseldorf ist eher bescheiden: LOGINEO NRW ist erst gerade angelaufen; die Anbindung von Schülerinnen und Schülern ist noch nicht vollzogen; der Entwicklungsprozess hat sich wie Kaugummi gezogen. Die Diskussion um dienstliche Geräte für Lehrkräfte wird seit Jahren ohne Erfolg geführt; ebenso die Forderung nach ausreichenden digitalen Medien für die Hand der Schülerinnen und Schüler. Alles schon lange gefordert, schon lange diskutiert und nun schmerzlich fehlend. Das nun entstandene Szenario erinnert an das darwinsche Prinzip „Survival of the fittest“.

Lehrerinnen und Lehrer sind an Mangel gewöhnt. Deshalb sind sie auch extrem erfinderisch. Und so ist nun Folgendes zu beobachten: Nach zaghaftem digitalen Erstversuchen sieht man nun allerorten, wie man auf bereits fertige Produkte zurückgreift, die der Markt für Lernen auf Distanz bereithält. Es werden virtuelle Klassenzimmer angelegt, es gibt Chats und Videokonferenzen, es werden sinnvolle Aufgaben gestellt, bei der eine Gruppe von Schülern an einem Dokument arbeitet und es später präsentiert. Leider handelt es sich bei den allermeisten Anwendungen nicht um vom Schulministerium bereitgestellte und auch mitbestimmte Software.  Aus der Not heraus sind es oft gerade die Produkte, die datenschutzrechtlich im Vorfeld von Corona immer als „problematisch“ diskutiert wurden.

Nun vom strengen Datenschutz aus der Not heraus „entfesselt“, wird nun erkannt, was man mit digitalen Werkzeugen so alles machen kann (könnte?). Von offizieller Seite belässt man es bei allgemeinen datenschutzrechtlichen Hinweisen, wohl wissend, dass man keine Alternative stellen kann. Die Konsequenzen aus diesem großen Versuchsfeld werden nach überstandener Krise aus meiner Sicht frappierend sein: Niemand wird wieder den Schritt zurückmachen wollen und auf die in der Not erprobten, aber datenschutzrechtlich wackligen, digitalen Arbeitsweisen verzichten wollen. Man kann einen eingeschlagenen digitalen Weg nicht zurückschreiten. LOGINEO NRW ist mit einem Schlag in der vorliegenden Version veraltet und selbst die noch kommende Version steht unter Umständen dahinter zurück, was wir heute bereits praktizieren.

Die Corona-Digitalpraxis hat hier vieles bereits übersprungen – ein echtes Problem für die schulische Praxis und den Datenschutz der Zukunft! Unter Umständen gilt es den nun neu zu bewerten. Aus der pauschalen Hülse „Datenschutz“ muss herausgearbeitet werden, welchen Daten man denn nun wirklich geschützt haben will. Hier geht es nicht um einen Angriff auf die Grundrechte zum Schutz persönlicher Daten, sondern um die persönliche Einstellung dazu, welche Daten ich denn bei bestimmten Anwendungen von mir „preisgebe“.
Beispiel: Die meisten Messangerdienste geben persönliche Nutzerdaten weiter, wie Nutzungsdauer, benutzte Geräte etc. Die meisten von uns tolerieren das in der Abwägung zum Nutzungsvorteil.
Diese innere Diskussion haben viele von uns beispielsweise nun auch bei der Nutzung von Apps zu Videokonferenzen durchlaufen. Das ist eine persönliche Entscheidung.
Kurios: Per führendem Messangerdienst, datenschutzrechtlich höchst problematisch, wird angefragt,
ob denn der Anbieter xy für eine Videokonferenz datenschutzrechtlich unbedenklich ist…

Unantastbar und mit hoher Schutzwürdigkeit sind und bleiben Daten anderer Personen, die ich verarbeite (siehe VO-DV I und II, DSGVO und DSG NRW) und mit entsprechenden Schutzvorkehrungen versehen muss.

Noch ein Blick in eine andere Richtung: die unterschiedliche digitale Ausstattung und das Know-how in den Elternhäusern. Viele Arbeitsblätter werden mit dem Smartphone abfotografiert und unbearbeitet weitergeleitet. 
Die Eltern drucken aus (wenn denn ein Drucker vorhanden ist) und stellen fest, dass die Druckerpatrone schnell leer und beim Kauf sehr teuer ist. Ich habe da Einblicke in so manchen Elternchat gewinnen können.

Und da sind wir erneut beim Thema der Chancengleichheit und sozialen Ungerechtigkeit. 18,4 % der Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren in NRW sind auf Grundsicherung angewiesen (Quelle RP 29. April 2020). Meist muss hier digitales Lernen ohne Computer bewerkstelligt werden.
Heißt: Schlimmstenfalls werden die bildungsfernen Haushalte weiter auf Distanz zur Bildung gehalten. Da sind 150 Euro für den Kauf eines Computers nicht hilfreich, weil man ihn von dem Zuschuss schlichtweg nicht kaufen kann.

Da hilft nur eins: Jedem Schüler wird bei Bedürftigkeit ein solches Gerät zur Verfügung gestellt.
„Handfestes“ für die Praxis: Arbeitsblätter nicht abfotografieren – App laden zum Ablichten im PDF-Format mit dem Smartphone (es gibt viele brauchbare für wenig Geld) – man wird sofort in die Bearbeitung geleitet und zieht den Rand des Blattes stimmig – dann noch sw-Modus wählen (damit pro Seite nicht so viel Tinte verbraucht wird) – Kontrast noch etwas herunterschieben – speichern und abschicken – Eltern und Schüler werden staunen.


Andreas Stommel,
Referent für Digitalisierung und Datenschutz
VBE NRW

Diesen und weitere Artikel zum Thema Schule mit Abstand finden Sie in:
Schule heute 05/2020

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